Helfen ist eine der schönsten Eigenschaften, die wir Menschen haben. Wir unterstützen andere, wenn sie schwach sind und stehen ihnen in Krisen bei. Doch was, wenn das Helfen nicht nur ein Akt der Nächstenliebe ist, sondern zu einem stabilen Beziehungsmuster oder zum Zwang wird? Hier kommt das sogenannte Helfersyndrom ins Spiel.
Was ist das Helfersyndrom?
Der Begriff wurde in den 1970er Jahren vom Psychologen Wolfgang Schmidbauer geprägt. Er beschreibt ein Verhalten, bei dem Menschen ein starkes Bedürfnis haben, anderen zu helfen – häufig über ihre eigenen Kräfte hinaus. Dabei geht es nicht nur um Mitgefühl oder Solidarität, sondern oft auch um ein unbewusstes Streben nach Bestätigung, Gebrauchtwerden und Selbstwert. Helfer sind meist mit einem idealisierten „Über-Ich“ identifiziert.
Menschen mit Helfersyndrom:
- übernehmen Verantwortung, selbst wenn es nicht ihre Aufgabe ist
- vernachlässigen die eigenen Bedürfnisse und reagieren besonders sensibel auf die Bedürfnisse der anderen
- können kaum „Nein“ sagen
- fühlen sich wertvoll und wichtig, wenn sie gebraucht werden
- binden vorzugsweise hilfebedürftige und problembehaftete Personen an sich, für die sie Unterstützung leisten
Warum entwickeln Menschen das Helfersyndrom?
Die Ursachen sind vielschichtig. Häufig liegen sie in der Kindheit: Wer früh gelernt hat, Anerkennung nur durch Leistung oder Fürsorge zu bekommen, entwickelt später oft das Gefühl, nur dann liebenswert zu sein, wenn er anderen nützt. Auch gesellschaftliche Rollenbilder – etwa die Idealvorstellung der aufopfernden und unermüdlichen Mutter – können dieses Verhalten verstärken.
Die Schattenseiten des Helfens
So positiv Hilfsbereitschaft klingt, das Helfersyndrom kann ernste Folgen haben:
- Burnout und Erschöpfung: Wer ständig für andere da ist, läuft Gefahr, sich selbst aus dem Blick zu verlieren.
- Unausgeglichene Beziehungen: Freundschaften und Partnerschaften werden als stabile „Über-Unterordnungsverhältnisse organisiert“, wenn Hilfe zur Einbahnstraße wird.
- Verlust der Selbstfürsorge: Eigene Bedürfnisse und die eigene Hilfebedürftigkeit geraten in den Hintergrund – bis Körper oder Psyche die Notbremse ziehen.
Wege aus dem Helfersyndrom
Die gute Nachricht: Man kann lernen, mit diesem Muster bewusster umzugehen.
- Selbstreflexion: Erkennen, wann Hilfe wirklich nötig ist und wann man nur aus Gewohnheit oder vielleicht sogar aus narzisstischen Gründen eingreift.
- Grenzen setzen: „Nein“ zu sagen ist keine Schwäche, sondern Selbstschutz.
- Selbstwert stärken: Sich nicht über Leistung oder Hilfsbereitschaft definieren, sondern eigene Interessen und Bedürfnisse ernst nehmen.
- Professionelle Unterstützung: Gespräche mit einem Coach oder Therapeuten können helfen, alte Muster zu durchbrechen.
Fazit
Helfen ist wertvoll – aber nicht um jeden Preis. Wer nur für andere lebt, vergisst leicht, dass er selbst ebenso wichtig ist. Das Helfersyndrom erinnert uns daran, dass Selbstfürsorge keine Egozentrik, sondern die Grundlage für ein echtes, gleichwertiges und gesundes Miteinander ist.
Zur Vertiefung:
Schmidtbauer, Wolfgang: Das Helfersyndrom. Hilfe für Helfer. Rowohlt, Reinbek 2007
Schmidtbauer, Wolfgang: Helfen als Beruf. Die Ware Nächstenliebe, Rowohlt, Reinbek 1983
Schmidtbauer, Wolfgang: Wenn Helfer Fehler machen. Rowohlt, 2017
Schmidtbauer, Wolfgang: Hilflose Helfer. Über die seelische Problematik in helfenden Berufen. Rowohlt, Reinbek 1992