Wenn Kinder die Wunden ihrer Eltern erben

Schon immer gab es viel Erfahrungswissen dazu, aber seit einigen Jahren belegen auch Forschungsergebnisse, dass (Groß-)Eltern ihre traumatischen Erfahrungen an ihre (Enkel-) Kinder weitergeben können. Wissenschaftliche Befunde zur Stressverarbeitung und zur Epigenetik zeigen, dass seelische Verwundungen – solange sie nicht geheilt sind – sich von Generation zu Generation vererben.

Typische Symptome von „ererbten“ Traumatisierungen sind erhöhte Stressanfälligkeit, Angststörungen oder aber Depressionen. Deswegen ist es in der systemischen Familientherapie auch so wichtig, die familiäre Vorgeschichte der Klientinnen und Klienten zu kennen.

Seelische Wunden werden gleich auf mehreren Wegen vererbt

Die Weitergabe seelischer Wunden geschieht – was den meisten sicherlich auf Anhieb plausibel erscheint – über die Interaktionen zwischen der traumatisierten (Groß-)Elterngeneration und den Nachfolgegenerationen. Oft ist der elterliche Erziehungsstil durch die Traumafolgen gekennzeichnet. Aber auch die Emotionen der (Groß-)Eltern werden mehr oder minder bewusst übermittelt. Dies geschieht anhand der verbalen, non-verbalen und para-verbalen Kommunikation, entlang von Gestik, Mimik und Stimme oder über die gewährten bzw. nicht gewährten Berührungen. Ist die eigene Lebensgeschichte von überwältigenden und vor allem von nicht bewältigten Erlebnissen geprägt, dann wünschen sich viele Eltern bspw. ein Maximum an Sicherheit für Ihre Kinder. Dadurch erlernen diese, ganz besonders vorsichtig, wenn nicht sogar ängstlich zu sein und empfinden die Welt tendenziell als unsicheren Ort.

Hinzu kommt, dass Eltern mit Traumafolgestörungen ihre eigenen Erlebnisse und Probleme oft unbewusst zur Hintergrundtapete machen. Dadurch vermitteln sie ihren Kindern, dass diese es doch „eigentlich gut“ und „nichts zu beklagen“ hätten. Ihre Probleme werden dann vor dem Hintergrund der eigenen traumatischen Armuts-, Gewalt- oder Kriegserfahrungen eher bagatellisiert, sprich nicht ernst genommen.

Besonders beeindruckend in diesem Zusammenhang sind aber die wissenschaftlichen Befunde aus der Epigenetik. Die Epigenetik ist eine Art Verbindung zwischen unseren Umwelteinflüssen und unseren Genen: Sie entscheidet, unter welchen Rahmenbedingungen ein Gen an- oder ausgeschaltet wird, also wann es zur Wirkung kommt und wann nicht.  Diese Art der Gensteuerung spielt bspw. bei einer ererbten Stressregulationsstörung eine große Rolle. Hier lautet der Befund, dass nicht nur die traumatisierten Menschen selber als Traumafolge ein Problem mit ihrem Stressmanagement haben, sondern auch deren Kinder, die selber nichts Überwältigendes erlebt hatten.

Aus meiner alltäglichen therapeutischen Erfahrung weiß ich, dass alleine die Frage danach, von wem aus der Familie jemand ein bestimmtes Gefühl (z.B. Angst, Misstrauen oder eine starke Ablehnung) übernommen haben könnte, schon eine spürbare Erleichterung mit sich bringt.

Sich selbst besser zu verstehen, ist dann der erste Schritt in Richtung Akzeptanz und das wiederum die Voraussetzung für Veränderung. Wenn es dann noch gelingt, gemeinsam genauer zu ergründen, welche inneren Anteile aus dem Elternhaus woher kommen und welche eigentlich wirklich zur eigenen Person gehören, dann ist das oft ein wichtiger Teil der Lösung. So konnte ich bspw. zusammen mit einer Klientin, deren Mutter im Krieg männliche Gewalt erfahren hat, ihre eigene ausgeprägte Vorsicht im Umgang mit Männern verstehbarer machen und auch relativieren.

Nur was wir kennen, können wir erkennen

In der Familientherapie werden die ererbten inneren Anteile Introjekte genannt. Bei Introjekten handelt es sich nicht im engeren Wortsinn um physische innere Anteile von Mutter oder Vater, sondern vielmehr um die inneren Abbilder von Mutter und Vater, die durch das jahrelange kindliche Erleben dieser wichtigen Bezugspersonen verinnerlicht wurden.

Leider lassen sich zwischen den inneren Anteilen, die durch Lernen am elterlichen Modell und den Anteilen, die unerwünschte Introjekte sind, keine klaren Grenzen ziehen. Aber wenn es darum geht, dysfunktionale Lebensgefühle besser zu erkennen und zu verstehen, ist das Wissen um die verschiedenen inneren Anteile enorm hilfreich. Denn auch in der Familientherapie gilt: was wir nicht erkennen, können wir auch nicht behandeln.

Zur Vertiefung

  • Von Sabine Bode gibt es gleich mehrere Bücher, die aufzeigen, dass die Kriegsvergangenheit auch heute noch in vielen Familien Spuren bis in die zweite und dritte Generation gelegt hat: Kriegsenkel (2013), Nachkriegskinder (2011), Kriegsspuren (2006), Die vergessene Generation (2004)
  • Lily Brett hat mit ihrer eigenen Lebensgeschichte in Romanform die Zeit des zweiten Weltkriegs und den Nationalsozialismus skizziert. Ihre Eltern heirateten im Ghetto von Lodz, wurden im KZ Auschwitz getrennt und fanden einander erst nach zwölf Monaten wieder. Mit zärtlichen Worten und einer Mischung aus Witz, Wärme und Verstand beschreibt sie die Grenzen der psychischen Verarbeitungsfähigkeit zweier Menschen, die solches Leid erlebt haben.  New York  (2000), Chuzpe (2020), Einfach so (1994)
  • „Ererbte Wunden heilen. Therapie der transgenerationalen Traumatisierung“  (2017) von Katharina Drexler.

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