Mutter-Sein ist ein Vollzeit-Job. Nur hat dieses Beschäftigungsverhältnis keine Konditionen, wie wir sie aus dem Tarifvertrag der IG-Metall kennen. Vollzeit heißt bei Müttern nicht „nine to five“, sondern 24/7. Mütter sind permanent im Einsatz, ohne Pause, ohne Urlaub. Sie bekommen weder ein üppiges Entgelt noch Schichtzulagen oder eine Gehaltserhöhung. Oft wird ihnen sogar noch die Anerkennung für ihren Einsatz verwehrt; in der Familie, auf dem Arbeitsmarkt oder von der Gesellschaft. Die Kombination aus hoher, andauernder psychischer und physischer Belastung und fehlender Anerkennung zehrt an den Kräften und bringt viele Mütter an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Kurzum: Sie sind im Dauerstress!
Nun sind Stress und unser Stresssystem – evolutionär betrachtet – eine ganz tolle Erfindung. Zumindest galt das vor Jahrmillionen noch, als wir den Großteil des Tages irgendwo entspannt herumlagen und nur ab und zu den Angriff eines Säbelzahntigers überstehen mussten. Heute überwiegen bei vielen von uns allerdings die Stress- gegenüber den Entspannungsphasen, insbesondere bei Müttern.
Stress nimmt uns die Fähigkeit zum Mitgefühl
Das Problem ist, dass wir unter Stress nicht mehr zu vernünftigem Handeln fähig sind. Wenn‘s eng wird, weil der Säbelzahntiger um die Ecke kommt, macht es wenig Sinn, erst lange zu überlegen, was wohl eine angemessene Reaktion wäre. Unser Gehirn kürzt daher den Weg zwischen Reiz und Reaktion ohne Sinn und Verstand ab. Unter Stress umgeht unser Hirn den präfrontalen Kortex, also den Ort, wo Sinn und Verstand wohnen. Dafür wirft es gleich die Amygdala an, also den Teil des limbischen Systems im Hirn, der uns in den Flucht- oder Angriffsmodus umschalten lässt. Wird die Amygdala erst einmal aktiv, fährt sie die gesamte Palette an autonomen Körperfunktionen hoch, die wir brauchen, wenn es um Leben und Tod geht: Das Herz rast, der Blutdruck steigt, wir atmen flacher, die Verdauung läuft auf Sparflamme. Ganz entscheidend aber ist, was die Nebennieren machen: Die schütten nämlich Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin aus. Zugleich reduziert unser Körper das Beziehungshormonen Oxytocin. Deswegen verlieren wir unter Stress unsere Fähigkeit zur Empathie, unser Mitgefühl. Schließlich wollten wir uns in prähistorischen Zeiten – als unser Stresssystem in uns angelegt wurde – auch nicht mit dem Säbelzahntiger anfreunden.
Sind wir dauernd unter Stress, d.h. veranstaltet die Amygdala ein pausenloses Feuerwerk, dann fühlen wir uns über kurz oder lang ausgebrannt. Dann klappt’s auch nicht mehr mit dem Abschalten abends im Bett, am Wochenende oder im Urlaub. Und kommen wir für eine längere Zeit nicht mehr aus dem Panikmodus raus und in den Ruhemodus rein, setzt ein Regelkreis ein, der sich selbst am Laufen hält. Denn wenn sich Verspannungen, Kopfschmerzen und Schlafstörungen erst einmal etabliert haben, stresst uns das zusätzlich. Ein negativer Kreislauf beginnt.
Gestresste Eltern zeigen eher negatives Erziehungsverhalten
Dauerstress blockiert dauerhaft gute Erziehung. Stehen wir unter Druck, können wir das, was es im Umgang mit kleinen Kindern braucht, nicht mehr leisten. Mit unserem Mitgefühl gehen auch Wohlwollen, Geduld, Nachsicht und Humor verloren. Es fällt dann schwerer, uns in kleine Kinder einzufühlen. Das führt dazu, dass wir viel zu hohe Anforderungen an sie stellen, die sie kaum noch erfüllen können. Wir erwarten dann, dass sie klecksfrei essen, sich schnell anziehen, geräuschlos einschlafen oder ohne Gemecker ihre Schulaufgaben erledigen. Klappt das nicht, reagieren wir ungeduldig oder sogar ungehalten. Und wie reagieren dann die Kinder? Genau!
Unser Stressmanagement wird uns in die Wiege gelegt
Aus der Neurobiologie mehren sich die Befunde, dass uns der Umgang mit Stress – teilweise! – in die Wiege gelegt wird. In Langzeituntersuchungen ist erkennbar, dass manche Babys unter Stress ausdauernd schreien und sich kaum beruhigen lassen, während die anderen geduldig ausharren und kaum aus der Ruhe zu bringen sind. Diese Reaktionsweisen bleiben im Laufe des Heranwachsens stabil. Unsere Stressbewältigung – so eine weitere Erkenntnis – hängt auch davon ab, wieviel Stress die Mutter während der Schwangerschaft verarbeitet hat.
Stressmanagement ist trainierbar, aber nicht zu 100% veränderbar
Stressbewältigung können wir trainieren, aber nur begrenzt und nur mithilfe lang anhaltender Übungen. Mit rationalen Argumenten wie „Das ist doch objektiv alles gar nicht so schlimm!“ kommen wir unserem Stressempfinden gar nicht bei. Unser Umgang mit Herausforderungen ist dafür einfach zu tief in uns angelegt und leider nicht rational steuerbar.
In therapeutischen Studien hat sich gezeigt, dass neben Entspannungstechniken und Gelassenheitsübungen wie Autogenes Training, Meditation und Progressive Muskelentspannung eine Sache sehr gut hilft: Zuwendung.
Erfahren wir Fürsorge und Anteilnahme, wirkt das emotional und nicht intellektuell. Statt eine gestresste Mutter mit Ratschlägen zu „schlagen“ und ihr zu erklären, was jetzt gut und hilfreich wäre in ihrer Situation, sollten wir ihr einfach nur Beistand leisten. Wenn wir zuhören, Gefühle teilen und Ängste ernst nehmen, wirkt sich das positiv auf die Stressbewältigung aus.
Ich übersetze diese Erkenntnis für mich so, dass ein liebevoller Partner oder eine zugewandte Freundin eine gute Hilfe sein kann für eine gestresste Mama – auch wenn es Partnern oder Freundinnen meist genau dann schwerfällt, wohlwollend und mitfühlend zu bleiben, wenn die Mama eine gereizte Kratzbürste ist.
Zur Vertiefung
- Von der Kinder- und Jungendärztin Karella Easwaran gibt es mehrere Bücher, die sich mit Stress und Mutter-Sein beschäftigten „Das Geheimnis ausgeglichener Mütter“ (2020) ist das jüngste ihrer Werke. Daneben gibt es viele YouTube-Videos mit ihr.
- Für die naturwissenschaftlich Interessierten sind die Bücher zweier Neurobiologen und Hirnforscher vielleicht interessant: Gerhardt Roth: „Wie das Gehirn die Seele macht“. (2017) und Gerald Hüther: „Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden“ (2012). Auch hier gilt: Wer sich nicht gleich durch die Bücher ackern möchte, findet von beiden tolle Videos und Podcasts bei Youtube und andernorts im Internet.
- „Du bist eine Heldin“ ist ein schön gestaltetes Mitmachbuch, das Mütter als Begleiter durchs Jahr nutzen können. Jeden Monat wird ein Thema (z.B. Dankbarkeit oder Loslassen), angeboten. Es enthält Yoga- und Achtsamkeitsübungen und viele kleine Impulse für das entspannte Leben mit Kindern.
1 Kommentar
Danke für diesen tollen Beitrag! Ich hatte gerade einen Aha-Moment…